Kommentar zu Manfred Spitzers Buch „Digitale Demenz. Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen.“

 

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Kaum ist das Buch erschienen, sorgt es schon für mächtig Wirbel. Natürlich fühlen sich alle, die viel mit Computer und Internet arbeiten (oder spielen) davon angegriffen und indirekt für bereits verblödet erklärt. So arg geht es in diesem neuen Werk von Hirnforscher Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer aber nicht zu. Wie wir es von seinen Büchern und Fernsehsendungen bereits gewohnt sind, erklärt er uns leicht verständlich, anschaulich und überzeugend wie Lernen in unserem Gehirn funktioniert, erläutert neuere Studien und räumt mit Vorurteilen auf.

Übrigens der reißerisch wirkende Titel „Digitale Demenz“ ist leider keine besonders geniale Wortschöpfung von Herrn Spitzer, sondern eine bereits bestehende Krankheit bei jungen Menschen um die 30 in Korea. Hier haben wir die ersten Patienten, die sich erwiesenermaßen zu viel mit den digitalen Medien beschäftigt haben und  unter Demenz-Symptomen leiden.

Dieses Buch zu lesen, schadet also niemandem. Besonders wer Kinder im Alter bis zu 18 Jahren hat oder pädagogisch tätig ist, kann viel Nutzen daraus ziehen. Die Diskussion rund um die Frage ‚Schadet uns zuviel Medienkonsum?‘ lässt sich unter Erwachsenen kaum mehr genügend beantworten. Wir nutzen das Internet, den PC, die mobilen Endgeräte sehr unterschiedlich. Etliche Erwachsene sind schon extrem genervt von der täglichen Email-Flut, aber auch vom typischen Gehabe auf Facebook und co.

Als erwachsener Mensch, sagen wir mal über 25 Jahren, hat man aber schon seine Wahl getroffen, welche Art von Menschen man mag, welche Musik man hört, welche Literatur man liest; man ist nicht mehr so beeinflussbar und erst recht nicht mehr auf der Suche nach ‚coolen‘ Leuten und ‚coolen‘ Inhalten. Kurz gesagt: Man selektiert mehr und entscheidet, was man brauchen kann und was nicht, denn man hat schon einiges angesammelt, an Erfahrungen mit Inhalten und mit anderen Menschen. Kinder und Jugendliche suchen noch ihren Weg, ihre Interessen, ihre berufliche Bestimmung und Menschen, mit denen sie auf einer Welle liegen. Sie wollen möglichst viel von der Welt erfahren und möglichst viel Kontakte zu Menschen aus aller Welt. So weit, so gesund.

Das Internet und die sozialen Netzwerke wie Facebook machen es ihnen einfach, diesen normalen gesunden Bedürfnissen nachzugehen. Aber: Das Kennenlernen via Bildschirm erweitert nicht die Menschenkenntnis, das Ergoogeln von Inhalten sorgt nicht dafür, dass sich Wissen im Gehirn ansammelt. Um eine ausreichende Menschenkenntnis auszubilden, muss man im direkten Kontakt viele andere Menschen erlebt haben und dies nicht nur in der Schule, sondern in der Freizeit. Man muss direkte Reaktionen sehen, Mimik, Gestik, Körperhaltung studieren; rein schriftliche Kommunikation reicht leider nicht aus. Manfred Spitzer zieht verschiedene Studien heran, die belegen, dass junge Menschen tatsächlich vor dem Bildschirm vereinsamen – und es sind nicht in erster Linie die männlichen jugendlichen Daddler, sondern Mädchen.

Was speziell das Lernen und Einspeichern von Wissensinhalten angeht, so sagt uns schon der logische Menschenverstand, dass wir uns mit dem reinen Ergoogeln von Antworten nichts Gutes tun, wenn wir lernen wollen. Es schadet uns bereits ‚fertigen‘ Persönlichkeiten, Berufstätigen wohl nicht mehr viel, wenn wir auf jede Frage eine Antwort per Google bekommen. Kinder und Jugendliche ‚lernen‘ heute aber durch Google, dass sie eben vieles nicht mehr lernen bzw. im Gehirn abspeichern müssen, weil es jederzeit aus dem Netz abrufbar ist. Natürlich arbeitet das Gehirn so auf lange Sicht immer oberflächlicher.

Wie Lernen im Gehirn genau funktioniert und welche Faktoren es positiv beeinflussen, ist immer wieder Thema dieses Buches und wird anhand zahlreicher Studien, Schaubilder, Grafiken und Fotos erklärt. Wir haben es alle schon geahnt und gewusst: Der Mensch lernt am besten über alle seine Sinne. Be-greifen heißt das Zauberwort beim Lernen und Verinnerlichen. Greifen, Sehen, Fühlen, Hören, Sprechen, Riechen: All diese Sinneserfahrungen führen zum Lernerfolg. Selber schreiben und abschreiben (von der Tafel oder dem Nachbarn..) führt eher zum Abspeichern neuer Inhalte, als das bloße Daten hin- und herschieben auf dem Bildschirm. Klar: Kinder sollen mit allen Sinnen lernen und nicht nur mit den Augen über einen Bildschirm. Im Grunde ist dies selbstverständlich, aber es gibt eben immer mehr die Tendenz, auch bei kleinen Kindern, das Lernen am Computer zu fördern.

Übrigens: Was rät ein Gehirnforscher eigentlich den Alten, die Angst vor der Alters-Demenz haben? Gehirnjogging mit Sudoku oder Kreuzworträtsel? Keineswegs, sondern eher echtes Jogging oder Spaziergänge im Wald mit dem eigenen oder ausgeliehenen Enkel.. Wer sich auf andere Menschen noch einstellen kann und all die Kinderfragen sich bemühen muss zu beantworten, bleibt eher fit, als wer sein Gehirn mit stupiden Übungen abspeist. Sudoku und Kreuzworträtsel dienen eher der Entspannung. Wer sein Gehirn fordern und damit den Wachstum neuer Zellen anregen will, der sollte es bis ins hohe Alter mit anspruchsvollen schwierigen Aufgaben konfrontieren. Und: Wollen wir nicht alle lieber den Kindern direkte Antworten auf ihre Fragen geben, statt dauernd das Smartphone zu zücken?

 

Fazit: Es ist ein sehr interessantes Buch, weil jeder hier noch etwas über das Lernen an sich und das Innenleben seines Gehirns erfahren kann. Das Internet und der PC kommen im Hinblick auf Erwachsene gar nicht so schlecht weg. Ernsthaft Gedanken müssen wir uns aber alle machen, inwieweit wir wollen, dass die digitalen Medien Einzug ins Kinder- und Klassenzimmer halten. Ich bleibe dabei, das Buch ist empfehlenswert, wenn auch für manche Zeitgenossen schmerzhaft. Ein Spitzer wird uns schon nicht das Internet wegnehmen, aber er öffnet uns die Augen für eine kritischere Wahrnehmung der neuen Medien und mehr Selbstbeobachtung.

 

P.S.: Ein Punkt, den ich hier nicht unerwähnt lassen wollte, der aber nicht so recht zum Rest passt und außerdem eher wahrgenommen wird, wenn ich ihn in’s P.S. packe , ist der Verlust der Selbstkontrolle durch die neuen Medien. Spitzer führt aus, dass Stress-Situationen immer eine Folge davon sind. Soll heißen: Wir geraten in Stress, wenn uns das Zepter aus der Hand genommen wird. Wenn wir etwas tun wollten und daran gehindert werden, weil etwas anderes dazwischenkommt. Dies geschieht heutzutage bei der Arbeit im und mit Internet andauernd, nämlich indem Emails beantwortet werden wollen oder der PC nach Updates schreit. Das dauernde Unterbrochenwerden ist nicht gesund für uns und unsere Gehirnleistungen. Wann immer das Geschehen im Netz, seien es die Emails, die Foren, die sozialen Netzwerke uns vorschreiben ‚wollen‘, was wir jetzt zu tun haben, sollten wir innehalten und die Selbstkontrolle bewahren. Lächerlich für viele von uns, aber tatsächlich haben heute viele Erwachsene (und dies behauptet nicht der als Medienhasser verschrieene Spitzer) Probleme damit, selber zu entscheiden, wann, wie und mit wem sie im Netz kommunizieren.

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